Auch wenn man diese Frage rein atheistisch betrachtet, gibt es verschiedene Antworten aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen (Biologie bzw. Soziobiologie, Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie etc.).
Ich nenne mal zwei Ansätze aus der Soziobiologie, unabhängig davon, wie ich dazu stehe.
Beide Theorien gehen von der evolutionstheoretischen Überlegung aus, dass das, was evolutionär nachteilig ist, langfristig von erfolgreicheren Strategien verdrängt wird. Das spricht gegen die These von der Verirrung des Geistes. Der Umstand, dass ein sehr hoher Prozentsatz der Menschen in verschiedenen Gegenden und Kulturen religiös ist, lässt auch vermuten, dass Religion nicht evolutionär neutral ist, sondern evolutionär erfolgreich.
Die erste Theorie fragt nach den Ursachen von Religiosität. Grob verkürzt erklärt sie das Entstehen der Religionen damit, dass ein hinterfragender Verstand langfristig erfolgreicher ist. Wer hinter dem Rascheln im Gebüsch eine (gefährliche) Ursache vermutet, wurde seltener gefressen als der, der das Rascheln nicht hinterfragte. Wer das Gewitter mit den sich verdüsternden Himmel in Zusammenhang brachte, konnte sein Verhalten frühzeitiger auf das Unwetter einstellen als der, der jedesmal vom Wolkenbruch überrascht wurde. Und nur wer überlebt, kann Nachkommen zeugen. Selbst wenn diese Einstellungen in vielen Fällen zu unangebrachter Vorsicht und zu falschen Vermutungen führte, war sie langfristig erfolgreicher als Bedenkenlosigkeit.
Religion ist quasi ein Nebenprodukt des Hinterfragens und der prinzipiellen Einstellung, hinter allen Gegebenheiten einen tieferen Sinn zu vermuten. Ein gängiger Vergleich dieser Theorien ist der Bauchnabel oder die männliche Brustwarze, die selbst keinen evolutionären Sinn haben, sondern Begleitprodukte anderer evolutionärer Prozesse sind.
Die zweite Theorie fragt nach den Folgen von Religion. Es gibt Studien, nach denen weltweit und religionsunabhängig gläubige Menschen mehr Nachkommen zeugen als Atheisten. Zudem gibt es Theorien, nach denen die Religion dem gesellschaftlichen Zusammenhalt förderlich sind, weswegen religiöse Gruppierungen mit größerer Wahrscheinlichkeit als atheistische Religionen fortexistieren.
Es ist nach dieser Theorie also egal, woher eine Religion kommt und welchen Inhalt sie hat. Die Religionen, die evolutionär nachteilig sind, sterben mit ihren Anhängern aus. Die Religionen, deren Anhänger evolutionär erfolgreich sind, breiten sich aus. Auch bei dieser Theorie geht es um die Gesmatbilanz: Selbst wenn diese Religion einigen auferlegt, zölibatär und zumindest theoretisch kinderlos zu leben, bleibt unterm Strich eine relative Zunahme dieser Gesellschaften und damit ihrer Kultur, u.a. ihrer Religion.
Diese Theorien lassen sich natürlich kombinieren und auch mit Theorien aus anderen Bereichen zusammenführen, z. B. dem Ansatz einiger Hirnforscher, nach dem Religion das Produkt einer (Über-) Aktivität bestimmter Hirnbereiche ist.
Aber wissenschaftstheoretisch ist auch anzumerken, dass sie und andere Theorien nur Hypothesen sind, die nicht bewiesen werden können. Auch und gerade die Evolutionstheorie hat verschiedene Paradigmenwechsel durchlebt. Ähnlich wie beim Atommodell ist anzunehmen, dass unser derzeitiges Verständnis von der Evolution nur ein momentanes ist. Daher ist Deine Frage nur fallibilistisch und nicht kategorisch zu beantworten.
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@ "Deus ex machina": Die Frage der Willensfreiheit in diesem Zusammenhang zu stellen ist angebracht und notwendig, die möglichen Antworten würden den Rahmen aber sprengen.
Strittiger finde ich Deine Überlegung, dass Sinn und Nutzen der Religiosität sich durch deren faktische Existenz begründen lassen. Richtig ist, dass die Menschheit, wie wir sie heute kennen, ohne Religion nicht hätte entstehen können. Das ist aber die rückwärtsgerichtete Betrachtung. Evolutionstheoretisch (und hier denkt man von einem bestimmten Zeitpunkt an vorwärts) hätte die Sache aber auch anders laufen können. Es hätte andere Menschen mit einer anderen Geschichte gegeben, wer weiß, ob sie heute noch existierten.
Und Du weißt besser als ich, dass nicht alles, was nicht widerlegt werden kann, deswegen wahr und richtig ist oder auch nur dafür gehalten werden sollte.